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Von Ufer zu Ufer – Theater im Fluss
Von Rudolf Stangl und Sabine Köstler-Kilian »Sara«
»Macht Liebe glücklich?« — das ist die zentrale Frage der die Oberstufen-Theatergruppe der Ernst-Göbel-Schule in Höchst im Odenwald Lessings Klassiker »Miss Sara
Sampson« unter die Lupe nimmt und im postdramatischen Gewand zu ihrem Stück macht. »Das Stück passt genau zu uns -wie wir denken und fühlen. Wir haben viel diskutiert uns Liebe bedeutet, wie wichtig Heiraten ist und
solche Sachen«, sagt eine Schülerin der Gruppe und bestätigt da was jedem Zuschauer während der gesamten Aufführung ins Auge sticht und ihn in den Bann zieht: eine konsequente Adaption auf die Themen und Bedürfnisse der
Gruppe. Die intensiven konzeptionellen Vorarbeiten nahmen dabei breiten Raum ein, wie die Spielleiterin Eleonora Venado im Fachforum berichtet: Aufführungen von »Miss Sara Sampson« wurden besucht und anschließend
analysiert, man machte sich mit postdramatischen Methoden vertraut, schuf kreative Schreibanlässe und führte Improvisationen mit und zu Textfragmenten durch. So verschaffte man sich Zugang Originaltext, und am Ende
wurde nur noch das beibehalten, was für die Eingangsfrage entscheidend war. So wurden nicht nur der Text erbarmungslos entschlackt und aktualisiert, sondern auch Szenen umgestellt, Figuren gestrichen und umgewandelt,
stets im Blick darauf, wo es sich anbot. Szenen und Situationen zu brechen.Doch verkopft — wie die Vorarbeiten auf den ersten Blick vielleicht vermuten lassen — kommt das Stück keineswegs daher. Ganz im Gegenteil:
Alles bleibt im Fluss, die Intensität des Spiels, die Spielfreude und souveräne Beherrschung der theatralen Mittel, die körperliche Präsenz und Dynamik machen die Aufführung kurzweilig und temporeich. Ein
postdramatischer Zuschnitt vom Feinsten, ein genussvolles Highlight. So fühlt sich der Zuschauer gleich zu Beginn angesprochen und darf laut auflachen oder zumindest verhalten schmunzeln, wenn in einer eingespielten
Videosequenz: Passanten auf der Straße danach befragt werden, ob Liebe glücklich mache. So manch einer kann sich in den Reaktionen wiederfinden. Dann erfolgt ein Perspektivenwechsel: Auf der Bühne wird der bunte
Liebesreigen gegeben: Sara liebt Mellefont, Mellefont liebt auch Marwood, Marwood liebt ihren Hund Bella. Bella? Aus Arabella, im Original die Tochter von Marwood und ihrem Geliebten Mellefont, wird kurzerhand das
Schoßhündchen Bella — eine Transformation, die durchaus ihre Logik und Komik hat.»Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, eine Tochter zu haben, aber wir können uns vorstellen, wie sehr man an einem Haustier bangen
kann. Deshalb haben wir die Tochter gegen den Hund getauscht«, so das Statement der Gruppe. Und diese Transformation eröffnet neue und witzige Spielebenen, die konsequent durchgehalten werden. So wird das Thema
»Trennung« zwischen Marwood und Mellefont in Form einer Hunde-Talkshow abgehandelt, indem alle Spieler durch Überziehen von roten Filzschlappohren, Pfötchenstellung und Hechelzunge zu Hunden werden und zwei
Hunde-Talkmaster den Zuschauer über das schreckliche Hundeschicksal aufklären, das diese Tiere bei einer Trennung ihrer Herrchen erleiden müssen. Stilisierte Gebärdensprache in rhythmisierten Wiederholungen kann da
schon das ein oder andere Zuschauerherz mitleiden lassen. Die Hunde tauchen später wieder auf im unterkühlten Zusammentreffen von Sara und Marwood und in der »Hundenummer«, wo Marwood Bella dressiert, um Mellefont bei
seiner Ankunft das Herz schwer zu machen. Aber auch die Szenenübergänge werden ins Spiel integriert. Immer wieder treten die Akteure aus ihren Rollen heraus, um entweder sich selbst zu kommentieren oder eine
Assoziationsebene einzubauen. Wenn Sara z.B. nach dem Erzahlen ihres Traumes das Zimmer verschönern und die Wände neu tapezieren möchte, wird schnell ein Tapeziertisch aufgebaut, dessen Aktion man dahingehend
verfremdet, dass alle männlichen Darsteller kurz aus ihrer Rolle fallen und am aufgestellten Maßband des Tisches miteinander konkurrieren, um sich anschließend mit den Tapezierpinseln ein Percussion-Duell zu liefern und
sich endlich wieder als Mellefonts über Liebe und Heirat Gedanken zu machen. Immer dann, wenn niemand Saras Träume wirklich hören möchte, tritt diese aus ihrer Rolle heraus und zieht sich mit den Worten »Dann spiel
ich eben melancholisch Saxofon« zurück und gibt so die nächste Szene frei. Somit bleibt das Geschehen im Fluss, keine lästigen Umbauten oder Breaks zerstören den Drive des Spiels. Schön akzentuiert sind auch die
zahlreichen chorischen Sprechpassagen (entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Theaterpädagogen des Stadttheaters), in denen sich z. B. die Saras und Mellefonts ihre »Steinbruch-Texte« an den Kopf werfen (»Kann ich
wirklich lieben?«, »Kann ich dir vertrauen?«) oder alle den »Choral« über die »Dürftigkeit, in die wir in allen Lebenslagen sozusagen eingeschlossen werden...«, anstimmen. Das Spiel mit dem Nicht-Perfekten wird
erkennbar, wenn z. B. ein Fehler, etwa ein Versprecher Mellefonts, bewusst gestaltet und ins Spiel eingebaut wird. Oder das bewusste Spiel mit dem heißen und kalten Zustand, wenn als Prinzip der Gleichzeitigkeit
einerseits gespielt, andererseits das Spielen beobachtet wird. Passive Spieler sind dabei immer bewusst passiv gestaltet. Schließlich spannt sich dramaturgisch konsequent der Bogen vom Anfang zum Ende des Stücks: Mit
einer verkürzten und pointierten Einspielung des Eingangsvideos wird endlich die Frage, die allen auf den Nägeln brennt, diplomatisch gelöst: »Macht Liebe glücklich?« — »Meistens.« Die Inszenierung aus Hessen kann
durchaus als Musterbeispiel für das Festival-Motto »Theater im Fluss« gelten. Zwischen den Ufern dramatischer und dramaturgischer Essenz hin und her wechselnd, treibt das Stück mit unheimlicher Power vorwärts, nimmt
sich aber trotzdem an den entscheidenden Stellen die Zeit zum Verweilen, um dem Zuschauer das zu gewähren, was er sich am sehnlichsten wünscht: den Genuss des Augenblicks. Text zu »SARA« entnommen dem Reader Fokus Schultheater 06 |
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