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Großer Auftritt Beim bundesweiten Schultheater-Treffen gab es mutige Stücke - eine gute Werbung für mehr ästhetische Bildung "Macht Liebe glücklich?" werden Menschen auf der Straße gefragt; die meisten sagen "Ja", und die Kamera zeigt, wie verlegen manche
dabei schauen. Die Jugendlichen, die sich nach diesem kurzen Einspielfilm auf der Bühne anschreien, die einander umgarnen, singen und intrigieren, wissen auch nicht so recht, wie sie mit ihren Gefühlen
umgehen sollen. "Das Stück passt genau zu uns, wie wir denken und fühlen", sagt Melanie Spät, 19, Schülerin in der Oberstufen-Theatergruppe der Ernst-Göbel-Schule in Höchst im Odenwald. "Wir
haben viel diskutiert, was uns Liebe bedeutet, wie wichtig Heiraten ist und solche Sachen." Dann haben sie ein Drama gesucht, das dazu passt. Fündig wurden sie bei Lessing. In "Miss
Sara Sampson" liebt Marwood Mellefont, Mellefont liebt Sara, der Vater liebt seine Tochter Sara, ein bunter Reigen, so wie man das aus einer Vorabend-Soap im Fernsehen kennt. Nur der Text war nicht so
aktuell, Lessing kannte weder Klingeltöne noch Kondome. Deshalb haben die Schüler unter Leitung der Biologielehrerin Eleonora Venado ("ich habe keine Angst, Stücke stark zu verändern, ich habe nicht
diese Germanisten-Ehre") den Text erbarmungslos entrümpelt, die Sprache aktualisiert, das Tempo erhöht, Szenen umgestellt, neue Darstellungsformen gesucht. Lessing mag sich im Grabe umdrehen. Das
Publikum in Bremen, das zum "Schultheater der Länder" kam, war begeistert. Darstellendes Spiel, wie es als Fach heißt, ist beliebt wie nie zuvor, zum Schultheatertreffen kamen in der
vorigen Woche mehr als 350 Schüler. Gruppen aus allen Bundesländern zeigten ihre Produktionen und tauschten sich über neue Darstellungsformen aus, etwa über das von den Odenwälder Schülern gezeigte chorische
Theater, bei dem mehrere Personen für eine Figur sprechen. Die Produktionen belegen, wie aktuell, professionell und lebendig Schultheater heute sein kann. Fachleute sind sich heute einig, dass Schultheater
mehr kann, als die Ausdrucksfähigkeit der Jugendlichen zu steigern. Soziale und kulturelle Kompetenzen werden erworben, Lebensgefühle einer Generation transportiert. Die Schüler können aufrütteln, mahnen,
erinnern. "Das bringt Präsenz", sagt Patrick Wölfelschneider, 19, Schüler der Ernst-Göbel-Schule, "es fällt mir viel leichter, Referate zu halten und mich im Unterricht zu melden". Seine
Mitschülerin Melanie Spät meint, "man wird viel sicherer und selbstbewusster". Emotionen zeigen
Ihre Schule unterstützt das, es gibt freie Tage fürs Proben, Kooperationen mit Gruppen in Prag und Sankt Petersburg, und demnächst
wird Darstellendes Spiel sogar als Abiturfach möglich sein. So viel Unterstützung gibt es nicht überall. Es zeuge von "unglaublicher Ignoranz und erstaunlicher Beharrlichkeit", sagt Joachim Reiss,
Vorsitzender des Bundesverbandes Darstellendes Spiel, dass in den meisten Bundesländern so wenig Theaterlehrer ausgebildet würden und Darstellendes Spiel als Unterrichtsfach nicht an allen Schulen möglich
sei. Zwar hat sich das Schultheater in den letzten Jahren in fast allen Bundesländern an den Gymnasien etabliert, vor allem als Wahlpflichtfach neben Kunst und Musik in der Oberstufe. Aber an
den Grundschulen und in der Mittelstufe ist immer noch stark vom Wohlwollen des Schulleiters und vom Engagement einzelner Lehrer abhängig, ob Theater gespielt wird oder nicht. Meist geschieht dies nur
außerhalb des regulären Unterrichts. "Wir müssen aufpassen, dass Schultheater nicht ein Oberstufenphänomen bleibt", warnt Matthias Mayer von der Körber-Stiftung, die das Schultheatertreffen der
Länder mitbegründet hat und finanziell fördert. "Es ist unser besonderes Anliegen, das Schultheater auch an Grund- und Hauptschulen zu stärken", sagt Mayer. Das Theater biete auch lernschwächeren
Schülern Möglichkeiten sich auszudrücken. Die Stiftung hat in Hamburg mit ihrem Projekt "Theater und Schule" die Erfahrung gemacht, dass sich über das Darstellende Spiel auch Eltern aus
bildungsarmen Schichten für Kultur interessieren und ins Theater locken lassen. Das Pestalozzi-Gymnasium aus Heidenau in Sachsen zeigt seine Stücke bewusst an Mittelschulen, um so Schüler zu
erreichen, die mit Theater sonst nichts anfangen können. Die Theater-AG hat sich dazu an einen besonders schweren Stoff gewagt: In ihrem Stück "Spurensuche - Ohne Vergangenheit gibt es keine
Zukunft" haben die Schüler Interviews mit Holocaust-Überlebenden zu Szenen verarbeitet. Da wird ein jüdischer Ladenbesitzer gedemütigt, Juden werden in Waggons gepfercht und ins Konzentrationslager
transportiert, Mengeles menschenverachtende Zwillings-Experimente gezeigt. Totenstille im Publikum. Und hinterher viel Beifall. Die Schüler freuen sich, sie haben bis an ihre Grenzen für das Stück
gearbeitet, waren in Israel, haben die Gespräche mit Überlebenden geführt und später über Monate hinweg in Szenen umgesetzt, mit wörtlichen Zitaten und nur nach wahren Begebenheiten. "Die
Fakten stehen auch in Geschichtsbüchern", sagt Lorina Hermann, 18. "Wir wollen Emotionen zeigen, menschliche Schicksale." Und sie wollen, dass sich andere Schüler mit dem Thema
auseinandersetzen, vor allem in Sachsen. Sie mussten anfangs gegen den Vorwurf kämpfen, das Stück sei zu emotional, zu aufwühlend, erzählt Alex Hanicke. "Ja, richtig, so ist es, das Stück soll schocken,
es soll anrühren", sagt der 17-Jährige. Den Schulrektor jedenfalls hat es so überzeugt, dass Darstellendes Spiel mit einer Sondergenehmigung des sächsischen Kultusministeriums von diesem Schuljahr an
als Fach anerkannt wird. Eigenes Unterrichtsfach
Um Stücke wie "Spurensuche" oder "Sara" zu erarbeiten, benötigen Schulen gut ausgebildete Theaterlehrer. Davon aber, klagt Joachim
Reiss, gebe es zu wenige. Schultheater sei mehr, als auf einer Bühne zu stehen und auswendig gelernte Texte aufzusagen, es brauche Methodenwissen. Bislang wird das jedoch nur an fünf Hochschulen bundesweit
gelehrt. Die meisten Theaterlehrer besuchen Fortbildungen, daran werde aber vielerorts gespart. Der Bedarf und auch das Interesse von Lehrern sei viel größer als das Qualifizierungsangebot, sagt Reiss. Seit Jahren kämpft der Bundesverband Darstellendes Spiel für ein eigenes Unterrichtsfach, das gleichberechtigt neben Musik und Kunst steht und in allen Schulstufen und Schulformen angeboten wird.
"Schultheater ist so etwas wie das Königsfach der ästhetischen Bildung", sagt Joachim Reiss. Doch Darstellendes Spiel lässt sich schwer in Rahmenpläne zwängen, weil damit kein abfragbares und
direkt verwertbares Wissen produziert wird. Und in welchem Leistungstest dürfte man schon auf die Frage "Macht Liebe glücklich?" wie am Ende des Theaterstücks antworten: "Meistens."
MARION SCHMIDT Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.221, Montag, den 25. September 2006 , Seite 16
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